Sonntag, 10. Mai 2015

Gegenwart oder Zukunft – wo soll ich leben?

Ein Freund beschrieb dieser Tage die Vorteile der Zukunft und ihren Einfluss auf unsere Gegenwart.

Sie ist so knapp bemessen, dass ich Ideen, Wünsche, Projekte und vieles mehr nicht in der Gegenwart umsetzen kann, ich brauche die Zukunft dazu.

So schreibt er unter anderem. Der gesamte Text ist hier zu finden und hat mich sehr nachdenklich gemacht. Denn ich gebe mir große Mühe, alles was geht in den heutigen Tag zu packen. Derzeit geht nicht viel, weil Knie und Zähne mich stark in Beweglichkeit und Motivation einschränken. Aber ich will trotzdem nicht hier sitzen und überlegen, wie ich die derzeitige Untätigkeit in der Zukunft wieder wett machen will.

Zukunft! Der Begriff verleitet zum Planen. Zukunftspläne sind meines Erachtens aber ein Grund dafür, dass die Gegenwart als kurze Zeit empfunden wird. Sie lassen mich nicht das Hier und Jetzt ausleben und in voller Länge genießen.

Dabei stellt sich schon die Frage: Wo fängt Zukunft an? Streng genommen ist jede Sekunde und jede Stunde die noch vor uns liegen, Zukunft. Zum Glück empfinde ich das nicht so krass. Für mich ist Zukunft frühestens der morgige Tag. Heute ist Gegenwart, Morgen ist Zukunft. Den heutigen Tag kann ich einigermaßen sicher überschauen. OK, ich weiß nicht, ob am Nachmittag die Sonne immer noch scheint, aber ich kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass ich auch den Nachmittag gesund überleben werde, wenn das am Vormittag bereits geschafft habe. Aber selbstverständlich ist das nicht. Ich habe kürzlich einen Vormittag gesund überlebt, rutschte aber am Nachmittag auf Matsche aus, verdrehte mir das Knie und nun kann ich mir die Dinge, die ich am Nachmittag und in naher Zukunft noch tun wollte, abschminken. Ich lebe noch, aber ich bin stark eingeschränkt und wenn ich denn Zukunftspläne über den Tag hinaus gemacht hätte, wären sie nun hinfällig. Alle Vorfreude – umsonst. Frust wäre angesagt. Da ich keine großen Pläne hatte, habe ich aber auch keinen Frust und organisiere mir meine kommenden „heutigen Tage“ so, dass sie zu meinem kranken Knie passen und mach das Beste daraus.

Das ist der Grund, warum ich nur ungern über das Heute hinaus plane. Ich habe darum ein gestörtes Verhältnis zu Terminen. Leider geht es nicht ohne Termine, denn die ganze Welt lebt schon heute in der Zukunft. Ich kann nicht heute zum Arzt gehen, wenn mir was weh tut, ich brauche einen Termin. Ich brauche also auch bis zu diesem Arzttermin keine aufregenden oder freudigen Ereignisse zu planen, weil ich weiß, dass sie mit „Knie“ nicht zu bewerkstelligen sind, um bei dem Beispiel zu bleiben.

Als ich noch im Arbeitsleben stand, fand ich es immer sehr frustrierend, dass 3 oder 4 Wochen Urlaub ratzfatz und ohne nennenswerte Erholung vorbei waren. Bis ich mir eines Tages vornahm, keine Pläne für den Urlaub zu machen. Ich wollte mich jeden Morgen fragen: „Was will ich heute tun? Wozu habe ich heute Lust?“ Das Ergebnis war, dass mein 3wöchiger Urlaub gefühlt ca. 6 Wochen gedauert hat. Ich war richtig gut erholt und ich habe zum ersten Mal gespürt, das Leben etwas anderes ist, als Termine zu machen und Pläne zu schmieden. Ich erkannte den Sinn des Begriffes „hier und jetzt“.

Wie passt es aber dann dazu, dass ich gerne rituelle Termine in mein Leben einbaue? Regelmäßige Termine mit Freunden zum Kuchenfassen, Erzählen, Gedankenaustausch? Es gibt „so ne Termine“ und „so ne Termine“. Termine die man mag, die einen aufbauen durch positiven Energieaustausch. Auf die man sich freuen kann, die ein Lichtblick in der Zukunft sind, an denen man sich hochziehen kann, wenn die Realität einen gerade mal runterzieht. Solche Lichtblicke ins Leben einzuplanen ist für mich wichtig.

Inzwischen weiß ich, dass es sehr schwer ist, täglich im „Hier und Jetzt“ zu leben. Das passt nicht zur programmierten Lebensweise der übrigen Bevölkerung. Da ist Hetze und Termindruck angesagt, dem alle entkommen wollen, sich aber immer mehr darin verstricken. Sie erreichen trotz aller Eile nicht wirklich die Ziele, die sie anstreben. Man muss tierisch aufpassen, dass man sich nicht mitreißen lässt. Dass man seinen eigenen Rhythmus lebt. Aber irgendwann erwacht man und denkt: „Verflixt! Du rast wieder durch dein Leben, genau wie der Rest der Welt. Vier Monate sind vergangen aber was hast du damit gemacht? Du bist von einem Termin zum nächsten gerannt. Dabei hast du übersehen, dass Frühling wurde. Du lebst grad nicht dein eigenes Leben, du wirst gelebt oder lässt dich leben.“

Aber was ist nun mit den Projekten, Wünschen, Ideen, die man umsetzen möchte. Die müssen doch geplant werden! Und die müssen in der Zukunft geplant werden! Aber was ist, wenn ich meine Gegenwart damit ausfülle, diese Projekte und Ideen zu planen, mich aber dann das Schicksal aufs Krankenlager schmeißt – von der Möglichkeit jederzeit tot umfallen zu können, wollen wir jetzt mal nicht reden – und alle Planungen storniert werden müssen, ich die schönen Projekte und Ideen fahren lassen muss? Dann verpasse ich doch nicht nur die Zukunft, sondern habe auch die Gegenwart nicht oder falsch gelebt. Sie ist dann verpasst und vorbei!

Soll man nun keine Projekte planen? Keine Ideen und Wünsche haben? Wie geht man damit um, dass die Gefahr besteht, am Ende wieder nur die Taube auf dem Dach zu sehen und den Spatz inder Hand fliegen lassen zu müssen? Treiben uns nicht unsere Wünsche und Ideen an, Projekte zu planen und uns auf die Zukunft zu freuen? Hält uns nicht die Aussicht auf die Zukunft bei Laune und treibt uns jeden Tag wieder neu an? Wieviel Zukunft ist erfoderlich für eine glückliche Gegenwart? Fragen auf die ich selbst keine richtige, brauchbare Antwort weiß.

Ich denke, es kommt wie bei Vergiftungen auf die Menge an. Zuviel Zukunft beraubt uns der kleinen Menge Gegenwart, die wir leben können, die wir sinnvoll ausfüllen können. Zu viel Gegenwart lässt unsere Träume und Wünsche verkümmern.

Mein Zukunftsprojekt ist derzeit das Kuddelbuch. Mein Baby, das seit Jahren in der Schublade schlief und nun zum Leben erweckt wurde. Wenn es ein erfolgreiches Projekt werden soll, muss ich Ideen sammeln, die sich umsetzen lassen. Diese Ideen werden Termine zur Folge haben, die ich planen und wahrnemen muss. Mit Hund aber ohne Auto werde ich wohl mal hier mal dort sein müssen. Wieviel Stress will ich mir und dem Hund damit machen? Wieviel Erfolg wird mir und dem Hund gut tun? Werde ich aufpassen müssen, dass mir nicht am Ende vor lauter Ideen, Terminen und dem dazugehörenden Druck die Liebe zu meinem Baby verloren geht?